Ein poetisches Experiment öffnet sich in die Stadt

Literatur uneingeschränkt 2.0

Nach dem Erfolg des inklusiven Poetry-Projektes im letzten Jahr, fand im Mai 2024 die Fortsetzung von "Literatur uneingschränkt" statt. Gemeinsam mit dem Poetry-Slammer Florian Cieslik haben Schülerinnen und Schülern der Schule am Sommerhoffpark (Schule mit dem Förderschwerpunkt Hören), der Wöhlerschule und der Beruflichen Schule Berta Jourdan ihre eigenen Werke verfasst und vorgetragen.

Ich finde die Sonne schön. Ich bin glücklich. Die Schmetterlinge fliegen und auf der Wiese sind Blumen. Ich sehe die Blumen, sie haben schöne Farben. „Wiedersehen“/ Nilofar

Lupita blickt auf den Zettel, auf das Mikrophon, vor ihr die vielen Leute. „Wir sind ziemlich aufgeregt“, sagt Hanna Kemmerer, die neben ihr steht. Die Förderschullehrerin hat ihre Schülerin zum Vortrag auf die Bühne begleitet. Sie macht den Anfang, liest den Titel von Lupitas Gedicht vor: „Bär“. Dann übernimmt Lupita: „Ich gieße die Blumen. / Die Sonne scheint hell. / (…) / Ich gehe gerne spazieren. Ich schaue gerne in den Himmel / und bin glücklich.“ Mit dieser Antwort von Lupita auf das Frühlingslied von Friedrich Stoltze ist der Abend „Literatur uneingeschränkt 2.0“ für die Schülerinnen und Schüler der Berta Jourdan Schule, der Schule am Sommerhoffpark und der Wöhlerschule eröffnet.

Mehr als zwei Dutzend Jugendliche werden in den nächsten zwei Stunden die Bühne im Karmeliterkloster in der Frankfurter Innenstadt betreten und ihre selbstverfassten Texte vortragen. Kinder und Jugendliche mit und ohne Hörbeeinträchtigung, mit und ohne besondere Bedürfnisse, die das Gymnasium besuchen, sowie mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung haben in den vorangegangenen Wochen in Workshops zu Gedichten von Frankfurter Autoren wie Friedrich Stoltze oder Johann Wolfgang von Goethe gearbeitet, ihre Antworten auf deren Werke zu Papier gebracht und sind dabei selbst zu Dichtern geworden. „Ich bin ein Poet, ein fantasievoller sogar“, heißt es dazu in Jakubs Text. Bei Johan: „Das Leben ist schön und ich bin sein Dichter.“

Das Programm „Literatur uneingeschränkt 2.0“ ist die Fortsetzung eines inklusiven Projekts, das 2023 in etwas kleinerem Rahmen mit einem Abend in der Aula der Wöhlerschule begann. Jetzt sind schon drei Schulen beteiligt und die Abschlussveranstaltung ist umgezogen. „Es war uns wichtig, ‚Literatur uneingeschränkt‘ zu öffnen und das Thema Inklusion in der Stadtgesellschaft sichtbarer zu machen“, sagt Moderatorin Franziska Deliry, die Lehrerin und Inklusionsbeauftragte der Wöhlerschule ist. Sie hat das Projekt „Literatur uneingeschränkt“ ins Leben gerufen und ist im Arbeitskreis Inklusion der Polytechnischen Gesellschaft tätig.

Ergebnis ist ein Abend voller unerwarteter Pointen, wie diese von Lukas: „Der Rasenmäher-Roboter war gerade dabei, die Blumenbeete des Nachbarn zu mähen, als Louisa auf den Rasenmäher springt und ihn ausschaltet. Den Nachbarn mag sie eh nicht so gerne.“ Oder bei Kolya: „Es stank nach Dünger und ich rief: ‚Mama, es stinkt ja so!‘ Meine Mutter war erstaunt: ‚(…) Das ist doch der Geruch vom Frühling am Riedberg!‘“. Oder von Süleyman: „Ich gehe öfter ans Meer und mein Sorgenkonto wird leer.“ Oder das Bekenntnis des Heuschnupfen-geplagten Efeturan: „Der Frühling ist mein Tod.“

Ergebnis ist auch ein kultureller Perspektivwechsel. Wie Goethes Faust sich angesichts von Mephisto fühlt, das kennt Salwa vom Shaytan, einem Dämon im Islam: „Einmal, als ich im Koran gelesen habe, kam der Shaytan / und hat versucht mich aufzuhalten / (…). Ich habe weitergelesen.“ Gänzlich unbeeindruckt vom „Geist, der stets verneint“ ist auch Zikria: „Ich denke, dass der Teufel auch lieb sein kann. / Er hat gar keine Lust mehr böse zu sein, weil er immer dasselbe tut / Und keinen Bock mehr hat."

Der Poetry-Slammer Florian Cieslik hat die Jugendlichen auf ihre Auftritte vorbereitet. Ausgehend von den Texten der Klassiker erhielten die Schülerinnen und Schüler niedrigschwellige Impulse, wie Bilder oder einzelne Worte, zu denen sie dann assoziierten und ihre eigene Sprache fanden. „Es ist wie beim Fahrradfahren lernen, wenn man nach und nach die Stützräder weglässt“, erklärt Cieslik. Und irgendwann in dem Prozess entdeckten die jungen Teilnehmer neuen Selbstwert, „in mir steckt etwas. Meine Gedanken sind gut – ich kann selbst produzieren, nicht nur reproduzieren.“

Es sei wichtig, von den Talenten der jungen Leute auszugehen, betont die Leiterin der Wöhlerschule, Christa Eller. Doch das, ergänzt ihre Kollegin von der Schule am Sommerhoffpark, Indra Schindelmann, erfordere auch Mut, denn jeder, der auf der Bühne seine Texte vorträgt, gebe auch Einblick in sein Inneres.

Die Sommerhoffpark-Schülerinnen und -Schüler tragen ihre Gedanken unterschiedlich vor. Sie sprechen selbst oder tragen ihren Text in Gebärdensprache vor; zwei Gebärden-Dolmetscherinnen übersetzen in die eine oder die andere Richtung – Laut- in Gebärdensprache und umgekehrt. Allein dieser körperliche Einsatz für die Barrierefreiheit macht deutlich, wie viel Arbeit hinter dem Begriff „Inklusion“ steckt, wenn man ihn ernst meint.

Inge Meichsner kennt das. Sie ist Leiterin der Beruflichen Schulen Berta Jourdan, die seit drei Jahren eine Klasse anbietet für Jugendliche mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung, die auf den Einstieg ins Arbeitsleben vorbereitet werden. Das Programm, bestehend aus Schul- und Praktikumstagen, dauert drei Jahre und die Suche nach Arbeitgebern, die die berufliche Eingliederung lernbeeinträchtigter junger Menschen ermöglichen, ist schwer. „Wir brauchen dafür unbedingt Betriebe, die bereit sind, junge Menschen mit Förderbedarf bei geistiger Entwicklung aufzunehmen. Sie gewinnen damit langfristig äußerst zuverlässige Mitarbeiter. Der Weg in die Praunheimer Werkstätten hat mit Teilhabe nichts zu tun.“

Ein neues Verständnis dafür zu schaffen, ist anstrengend, berichtet auch Indra Schindelmann. „Wir wünschen uns mehr Bereitschaft in der Öffentlichkeit, sich auf Inklusion einzulassen, allen – auch mit Lernbeeinträchtigungen – eine Chance zu geben. Das bedeutet vielleicht auch, einmal Tempo rauszunehmen. Aber auch darin liegt eine Chance für alle.“

Die Berta-Jourdan-Schüler, die an diesem Abend auf der Bühne stehen, haben gerade ihren ersten Tag im neuen Praktikum hinter sich in der Gastronomie, beim Friseur oder in einer Kindergarten-Küche. Ihre Lehrerin Hanna Kemmerer hat während der Workshops zu „Literatur uneingeschränkt“ eine Entwicklung bei ihren Schülerinnen und Schülern beobachtet. „Jedes Mal haben sie sich mehr getraut mitzumachen bei den Übungen, sind aus sich herausgegangen. Und das, obwohl sie sich in der Schule bisher nie mit Gedichten beschäftigt haben.“

Auch Anas steht am Abend seines ersten Praktikumstages noch auf der Bühne. Vorlesen wäre schwierig – aber auswendig wird sein Text zum rhythmisch-dankbaren Lied auf den Frühling:

 „Der Frühling ist ein Maler, er malet alles an, die Berge und die Blätter, die Täler und die Bäume: Was der doch malen kann! (…)  O könnt ich doch so malen, ich malt ihm einen Strauß.“  „Maler Frühling“/ Anas

Gemeinsam ist den Autoren die Liebe zum Frühling. Sehr individuell ist ihr Ausdruck. „Wallah, Frühling!“ hat Subahn seinen Text genannt, fünf Zeilen, die alles sagen, um das Frühlingsgefühl auszudrücken: „Irgendwann wird es windig, kaltes Wasser auf mein Gesicht, das, wallah, nach Durstlöscher schmeckt. Als letztes gibt es mit Perle ein Dönerdate, wallah, saftig. Das ist Frühling!“

Es seien die Einblicke in die Innenwelt der Jungen und Mädchen, die das Projekt so besonders machten, sagt Schulleiterin Schindelmann. Inklusion, das bedeute auch neue Perspektiven einzunehmen. Wenn es doch nur immer so einfach wäre wie bei Sara, die ihrem Publikum den Perspektivwechsel ganz unkompliziert ermöglicht. „Mein Auftritt ist eine ziemliche Veränderung“, sagt sie, „lasst uns gemeinsam etwas Neues durchmachen! Jeder tauscht jetzt mal mit seinem Sitznachbarn den Platz… Und wie war’s? Wie ist es jetzt? … Sehr ihr, so schlimm war das doch gar nicht, oder?“

Wie war es? Wie ist es jetzt? Schon während der Vorbereitungen, in der Pause und beim anschließenden Empfang ist die Atmosphäre „wuselig und spannend“, wie Franziska Kiermeier, die Leiterin der Abteilung Zeitgeschichte und Gedenken am Institut für Stadtgeschichte, beobachtet. Ihr Institut hat mit dem Programm auch ein Publikum angezogen, das üblicherweise vielleicht nicht den Weg dorthin findet. Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt, der Beifall in Gebärdensprache mit winkenden Händen frenetisch, die Gäste sind beeindruckt.

Wie wird es sein? „Literatur uneingeschränkt 2.0“ – ein Abend ohne Schranken zwischen Klassenstufen, Schulformen, städtischen Institutionen und Kulturen. Das Projekt hat sich in das Zentrum der Stadt geöffnet, und die Stadtgesellschaft hat das Projekt angenommen. Renate Bleise, Mitglied des Vorstands der Polytechnischen Gesellschaft und ehemals Leiterin der Wöhlerschule, gibt den Ausblick: „Literatur uneingeschränkt 3.0 wird folgen.“

Text: Christina Rathmann

Fotos: Jochen Kratschmer