Ein poetisches Experiment gelingt

Literatur uneingeschränkt

Texte ohne Grenzen, Literatur für alle - das hatte sich der Arbeitskreis Inklusion der Polytechnischen Gesellschaft für das Jahr 2023 vorgenommen und das Projekt "Literatur uneingeschränkt“ ins Leben gerufen. Im Januar und Februar arbeiteten Schülerinnen und Schüler der Wöhlerschule und der Schule am Sommerhoffpark (Schule mit dem Förderschwerpunkt Hören) zusammen in einer inklusiven Literaturwerkstatt an Texten, in denen sie sich unter anderem mit dem romantischen Gedicht "Die Mondnacht" von Joseph v. Eichendorff auseinandersetzten. Der Poetry Slammer und Bühnenautor Florian Cieslik begleitete sie auf ihrer Begegnungsreise mit der Literatur. Am Abend der Abschlussveranstaltung präsentierten die Kinder und Jugendlichen ihre poetischen Arbeiten vor einem Publikum, das sich mitreißen ließ.

Hinter aller Welt

Ich sitze in einem Raum so klein,
wie sich meine Seele fühlt.
Ein leerer Raum ohne Stühle.
Ich denke an die Tage
Wo mir ein kleiner Fels im Wege sitzt
Und mich betrübt.
An die schönen Tage, wo es auf den Feldern blüht.
An die Tage, wo jedermann denkt,
Dass ihn nichts retten kann.
Tage, an denen man denkt,
Dass sich die ganze Welt
Auf einen Raum beschränkt.
In diesem Raum sitz ich nun.
Glück, Freude, Nettigkeit kommen morgen
Oder bald.

Jan-Ole, Jahrgangsstufe 7

„Es donnert, es blitzt, die Blitze treffen die Bäume. Der Mond zeigt sich! Der Vollmond löchert oben den sehr starken Regen.“

Adam steht auf der Bühne, in der Aula in der Wöhlerschule blicken ihn mehr als 200 Besucher an, sein Nachtgedicht geistert von Unwetter zum Waldbrand zur Rettung zum Mond. „Zum Glück gibt es keine Verletzten und dank dem Mond wurde es langsam wieder besser. – Die Nacht fing an sich zu beruhigen.“ Die Zuschauerinnen und Zuschauer recken die Arme in die Höhe, wedeln mit den Händen: So sieht tosender Applaus in Gebärdensprache aus.

Mehr als 30 Schülerinnen und Schüler der Schule am Sommerhoffpark und der Wöhlerschule performten am Donnerstagabend, präsentierten die Texte, die in den vergangenen Wochen bei der gemeinsamen Arbeit entstanden sind. „Literatur uneingeschränkt“ lautet der Titel des Abends, den die Kinder und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen darbieten. Die Fünft- und Siebtklässler der Schule am Sommerhoffpark, die Schwerpunktschule mit Förderschwerpunkt Hören ist, sind hörgeschädigt; unter den teilnehmenden Wöhlerschülerinnen und Wöhlerschülern ist ein Kind im Rollstuhl, Klassenkameraden sowie Schülerinnen und Schüler anderer Klassen und Jahrgänge. „Es geht bei diesem Projekt, den Workshops und der Abschlussaufführung darum, Begegnungen zu ermöglichen, damit Inklusion erlebbar wird. Dies geschieht hier schulform- und jahrgangsübergreifend“, sagt Franziska Deliry, an der Wöhlerschule verantwortlich für die Inklusionsarbeit.

Dreimal haben sich die Jugendlichen seit Januar getroffen und mit dem Frankfurter Poetry Slammer Florian Cieslik Grenzen und Möglichkeiten der Sprache erkundet. Angeregt durch klassische Gedichte verfassten sie ihre eigenen literarischen Antworten auf die Werke der Dichter. Joseph von Eichendorffs „Mondnacht“ war die Inspiration für Adams Gedicht „Rettung“. „Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst“ schrieb der Romantiker Eichendorff in den 1830er Jahren. „Ich sah den weißen Ritter, ich sah den unfassbar beeindruckenden Mond, ohne Graphik-Karte, sondern lebendiger als jeder Schwarze Ritter“, antwortet Gianni aus der Sicht eines Computerspielers 2023.

„Was hier stattfindet ist auch kulturelle Inklusionsarbeit“, erklärt Poetry Slammer Cieslik. „Schülerinnen und Schüler mit und ohne Einschränkungen begegnen klassischen Werken und setzen sie fort. Damit wird auch klassische Literatur barrierefrei. Goethe wird hier nicht analysiert, sondern gefühlt.“

Konstantina hat das erlebt, als sie wie Franz Kafkas Held Gregor Samsa eine „Verwandlung“ beschreibt: „Ich tanzte durch meinen Garten (…) Aus Versehen hatte ich einen Geist von Goethe angenommen. Florian hat mich darauf hingewiesen. Danke, Kafka!“ Oder Mert: „Ich habe überall Flecken, schwarzweiß. Ich, ich, ich bin ein Fußball!“ Oder Mia: „Endlich war ich ein Vogel. Über unserer Stadt segelte ich weiter. Ich ließ mich gleiten und war frei.“

Für die Wöhlerschule sei das Projekt eine Premiere betont Schulleiterin Christa Eller. „Wir als Wöhlerschule wollen eine offene Schule sein, die die gesellschaftlichen Realitäten abbildet.“ Darum arbeite das Gymnasium seit mehr als zehn Jahren im Bereich der Inklusion mit den Schwerpunkten körperlich-motorische Entwicklung, Hören und Sehen und im Bereich der Autismus-Spektrum-Störung. „Es bleibt gleichwohl eine große Herausforderung.“ Eine Neuauflage des Projekts nach der erfolgreichen Premiere kann sich Indra Schindelmann, Leiterin der Schule am Sommerhoffpark, auf jeden Fall vorstellen. „Da wir eine recht kleine Schule sind, haben wir selbst keine Bühne – hier konnten unsere Schülerinnen und Schüler sich auf einer Bühne zeigen. Sie haben es alle geschafft! Sie sind alle ein Stück über sich hinausgewachsen – und das nehmen sie mit.“

Der Auftrag: Inklusion. Die Idee: eine inklusive Literaturwerkstatt. Die Förderung: durch die Polytechnische Gesellschaft. Die Verbindung: durch die frühere Wöhler-Schulleiterin Renate Bleise, die als Mitglied des Vorstands der Polytechnischen Gesellschaft gemeinsam mit Franziska Deliry im „Arbeitskreis Inklusion“ der Polytechnischen Gesellschaft aktiv ist. Das Ergebnis: „Literatur uneingeschränkt – ein poetisches Experiment“. Die Vorlage: Klassische Dichtung. Die Umsetzung: Adrian, Mira, Layan, Paulo, Adam C., Minoo, Hazal, Alba, Jan-Ole, Maria, Jule, Hibba, Emilian, Julie, Adrian, Malte, Ayush, Oskar, Gianni, Adam T., John, Sidar, Mohamed, Moritz, Paul, Michalina, Simon, Ela, Mia, Konstantina, Mert, Marlene, Achraf, Vincent, Clara.

Timo Schulze ist Klassenlehrer der 7a der Schule am Sommerhoffpark. Der Umgang mit Hörgeschädigten, Gebärdensprache und eine Gebärden-Übersetzerin am Bühnenrand sind für ihn Teil des Alltags – an der Wöhlerschule ist es neu. „Andererseits ist hier vieles auch für unsere Schülerinnen und Schüler neu“, sagt Schulze, „sie haben hier Kontakte mit Gleichaltrigen außerhalb unserer Schule und stehen gleichwertig mit ihnen auf der Bühne. Das ist eine völlig neue Erfahrung.“

Inklusion – das heiße nicht, dass alle gleich seien. Sich der Unterschiede bewusst zu sein, gehöre auf jeden Fall dazu, sagt Franziska Deliry. „Und in dieser Unterschiedlichkeit kann man dann Gemeinsamkeiten entdecken und erleben, zum Beispiel die Aufregung vor dem Auftritt. Oder das Träumen beim Schreiben der Texte.“

Ayush steht auf der Bühne. Der Sechstklässler hat – ebenso wie Adam – auf Joseph von Eichendorff geantwortet. „Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst…“ Ayush hat dabei eine Frage entdeckt, die er vielleicht gar nicht gesucht hat. Aber: „Die Antwort, die ich fand, war mir sehr lieb… Dass es in der Phantasie – keinerlei Grenzen gibt.“

Christina Rathmann