Herr Dr. Stoll, wie kamen Sie zu Ihrem Beruf als Einzelhändler?
Ich stamme aus einer Händlerfamilie, die seit 1920 in Frankfurt Einzelhandel betreibt. Ich war der einzige Sohn; da war damals klar, dass ich diesen Beruf ergreife und das Unternehmen übernehme. In der Phase der Berufsorientierung am Ende der Schulzeit hatte ich ein sehr gutes Beratungsgespräch beim Arbeitsamt – heute Arbeitsagentur –, wo man mir dazu riet, zuerst eine Lehre zum Bankkaufmann zu machen. Diese Ausbildung habe ich tatsächlich gemacht, und zwar bei der „Frankfurter Sparkasse von 1822 (Polytechnische Gesellschaft)“, wie seinerzeit der offizielle Name lautete. Nach der Lehre habe ich an der Goethe-Uni Betriebswirtschaftslehre studiert und mich auf Handel, Marketing und Wirtschaftsinformatik spezialisiert. Diplomarbeit und Promotion habe ich am Handelslehrstuhl gemacht, den es so leider heute nicht mehr gibt. Schon während des Studiums bin ich in den Familienbetrieb eingestiegen.
Was waren die Produkte der Firma Leder-Stoll?
Leder-Stoll wurde ursprünglich als Großhandel für Schuhmacherbedarf gegründet, der Sohlenleder, Werkzeuge, Klebstoffe und dergleichen an Schuhmacher vertrieb. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg wurde das Geschäft auch für Endkunden geöffnet, denn viele Menschen sohlten ihre Schuhe damals noch selbst und besorgten sich bei uns die Materialien. Nach dem Krieg kamen die Offenbacher Taschenhersteller auf meinen Großvater zu, der alsbald ihre Produkte in sein Sortiment aufnahm. Später verkaufte er – mit meinem Vater und meinem Onkel – auch Lederkleidung.
Sie haben die Entwicklung des Einzelhandels seit den 1980er Jahren hautnah miterlebt. Was waren die wesentlichen Veränderungen?
Mit unserem Geschäft habe ich zunächst eine Phase der Expansion erlebt, die bereits in den 1970er Jahren begann: Mein Vater eröffnete zwei Filialen in Frankfurt – auf der Schweizer Straße und auf der Leipziger Straße – die einige Jahrzehnte Bestand hatten. Seinerzeit gab es viele Händlerkollegen in Frankfurt – auch in den Stadtteilen: von Leder-Vater bis Zorbach, um nur einige zu nennen. In den Stadtteilen haben wir aber auch am eindrücklichsten den Umbruch im Einzelhandel erlebt. Die Geschäfte entlang der Schweizer Straße wurden in den 1990er Jahren hochwertiger, und wir konnten die steigenden Mieten nicht mehr erwirtschaften. Unsere Filiale dort wurde von zwei Bio-Lebensmittelhändlern gemeinsam übernommen, die sich die kleine Fläche teilten.
In der Leipziger Straße kam es durch den schleichenden Wegzug der Universität vom Campus Bockenheim ins Westend und dann vor allem nach der Schließung des Kaufhofs zu einem Umsatzeinbruch für den gesamten Einzelhandel. In der Schweizer Straße haben wir also einen Prozess der Gentrifizierung erlebt. An der Leipziger Straße dagegen sahen wir, was viele Städte danach auch gesehen haben: die Relevanz eines Kunden-Magneten wie z.B. eines Kaufhauses für die Kundenfrequenz im ganzen Umfeld und was passiert, wenn dieser Magnet wegfällt.
Doch der Handel hat sich auch selbst verändert. Damals hatten wir kleine Filialen mit einer Ladenfläche von etwa 70 Quadratmetern. Diese Ladengröße war für Lederwaren viele Jahre ausreichend. Irgendwann jedoch wurde das zu klein, denn sowohl die Kunden als auch die Marken änderten ihre Ansprüche an den Handel. Da reichte es nicht mehr, einfach nur Ware auszulegen, sondern es galt, die Produkte in Szene zu setzen. Dafür reichten 70 Quadratmeter nicht.
Welche Rolle spielte der Onlinehandel für den Wandlungsprozess?
Da ich nach meinem Studium in New Jersey regelmäßig in die USA reiste, erlebte ich dort die Frühphase in der Entwicklung des Internets. Schon Mitte der 1990er Jahre suchte dort kein Student mehr ein WG-Zimmer in der Zeitung, und niemand kaufte mehr ein Fahrplanbuch. Da waren wir in Europa noch längst nicht so weit. Ich vergesse nicht, wie ein Verleger abwinkte, als ich mit ihm etwas in Frankfurt entwickeln wollte. Damals begann ich mich für die Möglichkeiten des Internets im Handel zu interessieren, und bereits 1998 gründete ich den ersten Onlineshop unserer Branche in Deutschland: Koffer24.
Im Jahr 2021 haben Sie den Entschluss gefasst, das Geschäft aufzugeben. Warum?
Dafür waren zwei Ereignisse entscheidend. Das eine war der Verkauf unserer Leitmarke an den französischen LVMH-Konzern, der traditionell nicht mit Einzelhändlern zusammenarbeitet. Wir waren – zumindest in Deutschland – unter den TOP 5-Händlern der besagten Marke, und mit ihrem Verkauf brach uns von heute auf morgen ein großer Umsatzanteil weg. Das zweite Ereignis war die Corona-Pandemie. Sie hat uns den Rest gegeben, nicht zuletzt, weil Koffer24 auf Geschäftsreisende ausgerichtet war. In der Pandemie reiste niemand mehr, und keiner kaufte mehr Koffer oder Businesstaschen. Es sah auch nicht danach aus, dass sich das kurzfristig ändern würde. Und je länger die Pandemie andauerte und neue Gepflogenheiten, wie etwa Videokonferenzen, aufkamen, desto deutlicher zeichnete sich ab, dass Geschäftsreisen künftig an Bedeutung verlieren würden. Als damals die Umsätze einbrachen, blieben die Fixkosten fatalerweise bestehen. Aufgrund arbeitsrechtlicher Bestimmungen konnte ich auf die Situation nicht angemessen reagieren. Die Arbeitsrichter am Frankfurter Arbeitsgericht erklärten uns klar, dass wir langjährige Mitarbeiter nicht entlassen können. Wir konnten in vielen Teilen unsere Kostenstruktur nicht schrumpfen. Das hält man nicht lange durch. Als einzige Möglichkeit blieb uns dann nur, Ladengeschäft und Onlineshop zu schließen.
Die Entwicklung bei Leder-Stoll war zwei singulären Ereignissen geschuldet. Aber gibt es nicht auch allgemeine Trends, die gerade kleineren Einzelhandelsbetrieben das Leben schwermachen?
Doch, diese Trends gibt es. Und ich sehe diese auch in kleinen Arztpraxen, Handwerksbetrieben, bei Kleinbauern. Immer die gleichen Effekte unserer Zeit – immer ähnliche Probleme: Fachkräftemangel, Technisierung, das heißt hoher Kapitalbedarf, ein immer schneller und radikaler sich verändernder Kontext aus Mitarbeitern, Kunden und staatlichen Instanzen sowie Nachfolgeprobleme.
Im Handel sind große Zukunftsinvestitionen notwendig. Wenn Sie erfolgreich sein wollen, brauchen Sie zusätzlich zum Laden eine Website und eventuell auch einen Webshop, Sie müssen digitale Werbung machen und eine Social Media-Präsenz pflegen. All das bindet Arbeitskraft und verursacht Kosten. Für einen kleinen Einzelhandelsbetrieb bedeutet das eine erhebliche Zusatzbelastung. Gleichzeitig kämpfen viele Einzelhändler mit Renditeproblemen.
Hinzu kommt eine Fülle an Vorschriften, die viele als erstickend erleben: Die Menge an Regeln, die in Brüssel, Berlin und Wiesbaden entwickelt werden, wächst immer weiter, in gefühlt schnellerer Taktfolge. Man kann zu den einzelnen Vorschriften stehen wie man will, nur eines muss klar sein: sie verursachen Kosten und verschlingen Zeit, weil man sich darum kümmern muss, die Regeln auf den Betrieb anzuwenden und dies nachzuweisen. Oft erstickt die Regelfülle auch die Umsetzung neuer Ideen und Ansätze, die gut für Stadt oder Kunden sein könnten.
Geht vom Handel selbst auch ein Veränderungsdruck aus?
Ja, wichtig sind vor allem steigende Ansprüche von Lieferanten. Viele Hersteller entwickeln für ihre Produkte eine eigene Markenidentität. Dies verändert die Anforderungen an die Präsentation der Artikel. Die Hersteller wollen, dass ihre Produkte im Ladengeschäft in einer Weise inszeniert werden, die zu ihrer Markenidentität passt. So gibt es Hersteller, die ein spezifisches Markenumfeld wollen, das heißt, ihre Marke darf nur mit bestimmten Marken zusammen gezeigt werden. Der Hersteller eines bestimmten Modelabels sagt also zum Einzelhändler: „Wenn du meine Marke haben willst, dann musst du folgende Bedingungen erfüllen: eine Mindestfläche für die Präsentation verbunden mit einer Mindestorder, eine besondere Optik des Ladens, eine Auswahl weiterer Marken ähnlicher Identität.“ Somit braucht der Einzelhändler nicht nur Platz, sondern auch modernes Interieur, moderne Beleuchtungskonzepte, moderne Kommunikation.
Was ist, wenn ihm das zu teuer wird?
Dann kann der Händler versuchen, die Kostenseite zu optimieren, indem er beispielsweise einer Einkaufsvereinigung beitritt. Auch der Verzicht auf Souveränität durch Beitritt zu einem Franchisesystem kann ein Weg sein. Beide Systeme – Einkaufsvereinigung und Franchising – fokussieren oft auf spezifische Ladenidentitäten und sind genau auf die passende Kundengruppe zugeschnitten. Viele Filialen teilen sich dann die Overheadstruktur, die sich um Markenidentität, Werbung etc. kümmert. Die einzelnen Filialen müssen die zentral ersonnenen Maßnahmen „nur“ umsetzen. Von der Energie über die Ware bis hin zu Dienstleistungen lassen sich Einkäufe bündeln. Hat der Händler einen Standort, an dem die Marken Präsenz zeigen wollen, kann er leichter unterstützende Zahlungen aushandeln als in weniger attraktiven Nebenlagen. Allerdings besteht immer die Gefahr, dass die Marken dann selbst in die Beziehung zum Endkunden einsteigen und gegenüber ihre eigene Markenfiliale aufmachen.
Aktuell sehen wir, dass Inhaber kleiner Einzelhandelsgeschäfte in guten Lagen, spätestens bei Eintritt in den Ruhestand, ihr Geschäft an kleinfilialisierende Betriebe abgeben. Diesen Konzentrationsprozess erleben wir gerade in Städten mittlerer Größe, wo Sie immer häufiger Betriebe mit fünf, sieben, acht Filialen finden, die in dieser Größenordnung die unterschiedlichen Fixkosten besser stemmen können. Und dann gibt es immer wieder Einzelkämpfer oder kleine Teams, die Nischen besetzen und ihre Kunden so gut an sich binden, ja begeistern, dass sie eine positive Zukunft mit guten Renditezahlen haben.
Welche Rolle spielen die Kunden?
Auch die Erwartungen der Kunden verändern sich laufend. Wir Menschen sind so: Wir gewöhnen uns an höhere Standards sehr schnell, und dann erscheinen uns ältere Konzepte altbacken. Dann gehen wir nicht mehr so gerne dahin, um einzukaufen. Generell lässt die Bindung an Einkaufsorte nach. Man mischt online mit offline, Diskont mit ausgewählten Spezialangeboten oder Bio. Generell möchten die Kunden aber bestimmte Standards nicht missen: Kartenzahlung, freundliche kompetente Bedienung, Vorabinformationen im Netz darüber, was wann wo angeboten wird; sie wollen keine Stressfaktoren wie Warteschlangen, Leerverkäufe, unsoziale Lieferanten, wenig nachhaltige Produkte. Die Aufgabe des Handels ist es, diesen Service zu dem Preis zu bieten, den der Kunde auch wirklich bereit ist zu zahlen. Das passt nicht immer zusammen, wird aber mit immer neuen Ansätzen versucht.
Ich finde es interessant, dass Sie den Trend zum Onlineshopping nicht als die primäre Belastung für den stationären Einzelhandel beschreiben.
Bis zur Corona-Pandemie waren viele der Auffassung, das Internet sei für den Niedergang des stationären Einzelhandels verantwortlich. Aber da hatten die aktiven Einzelhändler alle schon ihre Website, viele sogar einen Webshop. Erfolgreiche Einzelhändler verfolgen eine Multichannel-Strategie, das heißt, sie haben eine eigene Website oder nutzen Angebote ihrer Einkaufsgruppe, sie sind in Social Media präsent und sie betreiben ein Ladengeschäft. Nebenbei bemerkt führt das dazu, dass heute der Online-Anteil des Handels gar nicht so genau zu erfassen ist, denn sehr viele Ladeninhaber, die statistisch dem stationären Einzelhandel zugeordnet werden, machen einen erheblichen Anteil ihres Umsatzes online.
Gibt es dann überhaupt eine Krise des Einzelhandels?
Eine plötzliche Krise sehe ich nicht. Vielmehr sehe ich einen über Jahrhunderte andauernden Wandel bei aggressivem Wettbewerb, der von großen Wegmarken geprägt ist: Eine Wegmarke war die Erfindung des Warenhauses in Paris, wo viele verschiedene Waren unter einem Dach angeboten wurden, der Preis nicht mehr zwischen Ladeninhaber und Kunde ausgehandelt wurde, sondern der Kunde fixe Preise an der Ware fand und sich selbst informieren und vergleichen konnte. So war Selbstbedienung erstmals möglich. Sicher ist die Entwicklung des Internets und des Onlineshoppings eine ähnliche Wegmarke für den Handel mit radikalen Folgen. Aber bis heute behauptet sich das inhabergeführte Einzelhandelsgeschäft. Es gibt ein Ladensterben, aber die Ursache liegt nicht im Onlinehandel an sich. Es hat seine Ursache eher in heutigen Kostenstrukturen und einem veränderten Kundenverhalten.
Wie steht es um das Geschäftsmodell des Kaufhauses? Galeria hat erst jüngst zum wiederholten Male Insolvenz anmelden müssen.
Für die Kaufhäuser waren die letzten Jahrzehnte brutal: Eigentlich sind alle großen Namen verschwunden: Hertie, Horten, Karstadt. Der Anteil der Kaufhäuser am Handelsumsatz ist stark geschrumpft. Das Erfolgskonzept „Alles unter einem Dach“ ist heute oft nicht mehr attraktiv, denn im Internet hat der Kunde eine viel größere Auswahl, und vor Ort will er nicht mehr auf großen Flächen suchen, sondern seine Lieblingsartikel schnell finden, und da fühlt er sich in kleinen übersichtlichen Spezialgeschäften oder Markenfilialen einfach wohler.
Bei den Kaufhäusern muss man allerdings unterscheiden. Es kommt auf die Lage an. In vielen großen Städten haben die Kaufhäuser ihre klassische Rolle verloren – die des Anbieters von allem, was man zum Leben braucht. Der Kunde hat viele Alternativen vor Ort. In den Mittelstädten aber ist das Konzept nicht tot, dort gibt es weiterhin erfolgreiche Kaufhäuser, die diese Funktion erfüllen und ohne die die Einwohner der Stadt ein großes Problem hätten, weil es dann eine ganze Reihe von Produkten nicht mehr zu kaufen gäbe. In Frankfurt führte die Kaufhof-Schließung in der Leipziger Straße genau dazu, dass plötzlich eine Reihe von Produkten gar nicht mehr zu kaufen war. In einer solchen Situation fährt der Kunde dann eben dorthin, wo er das spezielle Produkt bekommt, das er sucht, aber er erledigt dann gleich alle anderen Einkäufe auch dort. Dieser Teufelskreis führte auf der Leipziger Straße zu einem Frequenzeinbruch bei allen Händlern. Davor haben heute Mittelstädte mit Galeria-Standorten wieder Angst.
Doch gerade in vielen Mittelstädten wurden die Filialen von Galeria als erstes geschlossen.
An vielen Standorten haben inzwischen die spezialisierten Läden den verbliebenen Filialen von Galeria immer mehr Umsatz weggenommen, sodass sich das klassische Geschäftsmodell dort weniger rechnet. Es muss angepasst werden. Dazu gibt es aber verschiedene Konzepte. Bei Galeria kommt allerdings noch ein spezielles Problem hinzu, das schon in einer früheren Phase des Niedergangs eine Rolle spielte: die spekulative Verwertung der Kaufhausimmobilien. Die Immobilien sind hoch bewertet, um an Mittel für andere Investitionen zu kommen. Deshalb verlangt Signa als Eigentümerin der Kaufhausgebäude mutmaßlich zu hohe Mietpreise von der eigenen Handelstochter. Auf vielen Galeria-Standorten lasten seither hohe Mieten, die sie mit ihrem traditionellen Geschäftsmodell einfach nicht erwirtschaften können. Insofern ist unsere Kaufhauskrise in Deutschland auch ein immobilienwirtschaftlich verursachtes Problem.
Welche neuen Geschäftsmodelle könnten die Zukunft des Einzelhandels sichern?
Es gibt einen Trend hin zu Nachhaltigkeit, auch wenn dieser heute schwächer ausgeprägt ist, da in Krisenzeiten der Preis schnell wieder in den Vordergrund tritt. Mit dem Nachhaltigkeitstrend wird die Langlebigkeit von Produkten wichtiger. Ein wachsender Anteil der Konsumenten kehrt von der Wegwerf-Haltung ab. Sie wollen, dass Produkte sich reparieren lassen; sie interessieren sich für Second-Hand-Angebote, worauf die großen Mode- und auch Technikhäuser inzwischen reagieren. Auch das Luxussegment setzt verstärkt auf Nachhaltigkeit. Hinzu kommt eine größere Bereitschaft, selten genutzte Produkte eher zu mieten, als sie zu kaufen. Aus der Sicht des Einzelhandels haben diese Tendenzen jedoch eine Kehrseite, weil seine Umsätze zurückgehen und weniger Neuwaren verkauft werden. Diese müssen also hochwertiger werden und der Händler muss mehr Dienstleistungen verkaufen. Einzelhändler spielen künftig noch stärker die Rolle eines Geschichtenerzählers, Problemlösers und Entertainers, um ihren Kunden besondere Erlebnisse zu bieten.
Ich habe zuweilen den Eindruck, dass der vermeintliche Trend zu Nachhaltigkeit eher politisch erwünscht ist und herbeigeschrieben wird, in der Realität aber keineswegs so stark ausgeprägt ist. Die meisten nachhaltigen Produkte bleiben doch eher ein Nischenphänomen…
In der jungen Generation – aber auch bei hochwertigen Gütern – gibt es auf jeden Fall einen Trend zu einem bewussteren Konsum. Der Anteil der 18-Jährigen, die keinen Führerschein machen, ist so hoch wie nie. Andererseits ist es richtig, dass gerade in der Krise die Leute das Geld zusammenhalten und eine geringere Bereitschaft zeigen, den etwas höheren Preis für das Bioprodukt zu zahlen. Für manche Start-ups mit einem nachhaltigen Geschäftsmodell ist das derzeit ein großes Problem. Mit Beendigung der Rezession wird sich das aber wieder ändern. Sozial- und Ökostandards sind in der Produktentwicklung der Industrie ebenso wie im Einkauf des Handels oft fest integriert. Das ist nicht mehr aufzuhalten.
Nehmen wir das Produkt „Auto“: Über viele Jahre wurden in Deutschland Modellprojekte für die Elektromobilität gefördert und klimafreundliche Verkehrskonzepte ersonnen, ohne dass es zum großen Aufbruch kam. Da betritt Tesla die Bühne, und plötzlich ist ein Unternehmen mit Elektroautos am Markt sehr erfolgreich. Haben klimafreundliche, nachhaltige Produkte ein Imageproblem?
Ich verstehe nicht, warum wir in Deutschland nicht viel stärker die Marktpotenziale innovativer, nachhaltiger Produkte ausschöpfen. Wir sind in der Forschung so gut. Es gibt Widerstände aus den überkommenen Industrie- und Handelsstrukturen, deren Geschäftsmodelle mehr oder weniger von alten Technologien abhängen. Tesla ist das Paradebeispiel dafür, wie ein Produkt über die Marke und das Image gepusht wird. Doch wo es Gewinner gibt, gibt es auch Verlierer, und die sind zu stark in ihren bisherigen Geschäftsmodellen gefangen, die sie mit viel Einfluss verteidigen.
Ich denke, ein anderer Punkt ist noch wichtiger: Wir müssen dahin kommen, dass Nachhaltigkeit als Möglichkeit verstanden wird, Kosten zu sparen und betriebswirtschaftlich effizienter zu arbeiten. Wir werden an bestimmten Stellen auch um Verbote nicht herumkommen, wenn wir eine nachhaltige Konsumgesellschaft verwirklichen wollen, aber ich sehe es definitiv nicht als den richtigen Weg an, das Leben im Namen der Nachhaltigkeit immer teurer und kostspieliger zu machen. Das geht auch anders.
Was ist aus Ihrer Sicht eine wünschenswerte Zukunft der Frankfurter Innenstadt?
Ich wünsche mir gerade für die Innenstadt deutlich weniger Autos im Stadtbild. Autos brauchen wir zwar weiter, aber wir stellen sie in Parkhäusern oder Autosammelplätzen am Rand der Stadt ab. In der Stadt bewegen wir uns zu Fuß, mit dem Fahrrad, autonom fahrenden Taxen, mit Bus, Straßenbahn und U-Bahn, die in hoher Taktung verkehren.
Wie sehen Zeil, Roßmarkt und Hauptwache im Jahr 2040 aus?
Das Gesicht unserer Innenstadt hat sich in den letzten Jahren eigentlich schon positiv entwickelt, aber leider haben wir sehr hässliche Plätze geschaffen. Hier wünsche ich mir, dass es zu größeren Veränderungen kommt, dass unsere öffentlichen Plätze viel grüner werden, mit Bäumen, die im Sommer kühlenden Schatten spenden, mit Brunnen, mit Ruhezonen, wo sich die Menschen gerne aufhalten. Wir berücksichtigen Kinder und Jugendliche viel stärker bei der Gestaltung der Innenstadt, der öffentlichen Räume und der kulturellen Angebote. Kinder sind deshalb gerne in der Stadt und können sich hier sicher fühlen. Es ist wichtig, dass die Innenstadt insgesamt ein sicherer Ort ist, wo sich Jung und Alt wohlfühlt.
Der öffentliche Raum, die Plätze in der Innenstadt werden bewirtschaftet. Und doch gibt es mehr kulturelle und sportliche Aktivitäten im Freien. Die Kultureinrichtungen in der Innenstadt arbeiten eng mit Schulen zusammen und haben vielfältige Angebote für Kinder und Jugendliche. Vermutlich wird es etwas weniger Gastronomieflächen geben. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es kleine, mobile Angebote auf öffentlichen Plätzen gibt, sozusagen Pop-up-Cafés, wo die Menschen am Roßmarkt im Grünen sitzen, an einer mobilen Trinkhalle Getränke kaufen und ihr Essen mitbringen können. Das ist erschwinglich für alle und sorgt für einen lebendigen Stadtraum. Die Innenstadt ist auch künftig ein Ort, an dem die Menschen einkaufen und sich treffen; dies bleibt auch die wichtigste Funktion der Innenstadt.
Welche Geschäfte finde ich in der Frankfurter Innenstadt im Jahr 2040? Werden wir heutige Ladenflächen verstärkt für andere Zwecke nutzen?
Welche Geschäfte sich dort werden halten können, ist aus meiner Sicht ungewiss, denn das hängt auch von der Entwicklung der Mieten ab, die von den Geschäften erwirtschaftet werden müssen. Der Wert der Immobilien hängt im Wesentlichen an der erwarteten Rendite. Es ist gar nicht so einfach, Ladenflächen in der Innenstadt in weniger ertragreiche Kultur- und Wohnflächen umzuwidmen. Eine solche Umwidmung hätte erhebliche Wertabschreibungen zur Folge. Viele Träume, die wir derzeit von der künftigen Nutzung des Karstadtgebäudes an der Zeil hegen, lassen sich ja mit dem Wert dieser Immobilie nicht vereinbaren.
Könnte die öffentliche Hand hier helfen und analog zum sozialen Wohnungsbau eine „gemeinwohlorientiere Bewirtschaftung von Einzelhandelsflächen“ einführen, mit der Innenstadtflächen unter Marktwert an bestimmte Nutzungen gebunden werden, zum Beispiel nachhaltige Geschäftsmodelle oder Kulturangebote für besondere Zielgruppen, die in der Innenstadt ansonsten keine Chance hätten?
Die Stadt Hanau ist derzeit im Begriff, das alte Galeria-Kaufhaus zu erwerben und in diesem Sinne zu nutzen, in Fulda gibt es ähnliche Bestrebungen. Das ist ein möglicher Weg in bestimmten Situationen. Aber für das Problem des Wertverlustes bei solchen Umnutzungen sehe ich keine Lösung. Sie müssen bedenken, dass der Wert einer Immobilie oft zur Besicherung von Krediten dient, die so kalkuliert sind, dass Renditen in gewissen Höhen erwirtschaftet werden müssen. Bei Umnutzungen, wie sie Ihnen vorschweben, widmen wir hochproduktive wirtschaftliche Immobilien zu deutlich weniger ertragreichen Flächen um. Das funktioniert in Form von Zwischenfinanzierungen, um Leerstände zu vermeiden, aber als dauerhaftes Konzept sehe ich das nicht. Die Stadt Frankfurt kann aus eigener Kraft ein solches Vorhaben kaum finanzieren. Möglich ist allerdings, dass private, finanzkräftige Akteure wie Stiftungen und engagierte Bürgerinnen und Bürger, eine solche Immobilie erwerben und so die mit der Umnutzung verbundenen Wertabschreibungen mitfinanzieren. Aber auch dann wäre ein tragfähiges Konzept zur Bewirtschaftung erforderlich. Und ist diese Geldverwendung sinnvoll? Frankfurt hat eine starke Tradition bürgerlichen Engagements, und es gibt Beispiele für die Umnutzung gewerblich genutzter Immobilien in diesem Sinne. Das Polytechnikerhaus ist hier ein gutes Beispiel. Wer weiß, vielleicht finden sich ja engagierte Bürger und Organisationen, die für die Innenstadt neue Ideen und innovative Konzepte entwickeln und in entsprechenden Immobilien umsetzen.
Lieber Herr Stoll, vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Andreas Pesch.