Das Momentum der leuchtenden Augen

Prof. Dr. Frank E.P. Dievernich hat nach acht erfolgreichen Jahren am 30. Juni 2022 sein Amt als Präsident der Frankfurt University of Applied Sciences niedergelegt. Seit 1. Oktober 2022 ist er neuer Vorstandsvorsitzender der Stiftung Polytechnische Gesellschaft. Der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler durchlief zahlreiche berufliche Stationen, etwa in Managementfunktionen bei der Deutschen Bahn AG und der Kienbaum Management Consulting GmbH und hat, ganz in polytechnischer Manier, nie aufgehört, seine Fähigkeiten aus- und weiterzubilden. Vielleicht gerade wegen seiner vielfältigen Tätigkeiten sowie seines enormen Wissensdursts hat Frank Dievernich eines immer bewahrt: das Interesse am Menschen. Frank Dievernich glaubt an das Potential im Menschen. Er ist Macher, Wegbereiter und Freund – für die Menschen und die Stadt Frankfurt. In unserem Gespräch verrät er, welche Weichenstellungen seinen Lebensweg prägten, was ihn während seiner Amtszeit an der Frankfurt UAS antrieb und wohin wir als Stadt und Bürger hinschauen sollten, wenn es darum geht, sich gut für die Zukunft zu rüsten.

Herr Professor Dievernich, was sind Ihrer eigenen Einschätzung nach die wichtigsten Errungenschaften Ihrer Amtszeit als Präsident der Frankfurt UAS?

Als ich vor acht Jahren meine Tätigkeit als Präsident der Frankfurt UAS aufnahm, gewann ich schnell den Eindruck, dass die Hochschule in der Stadt Frankfurt nicht sehr präsent war. Man wusste zwar, dass es am Nibelungenplatz die „FH“ gibt, aber für was sie steht, was sie alles zu bieten hat, das war doch eher unbekannt. Gleichzeitig war es mir und dem gesamten Haus sehr wichtig, uns in Frankfurt noch besser und sichtbarer zu positionieren.  Wir verstehen uns nämlich als Mitgestalter, als „Lösungsschenker“ der Frankfurter Stadtgesellschaft. Wenn wir das sein können, macht mich das sehr glücklich, weil ich weiß, dass wir mittlerweile viele Kolleginnen und Kollegen haben, die sehr aktiv in und mit der Stadt an Projekten arbeiten.

So haben wir beispielsweise Kooperationen im Fachbereich Architektur, genauer in der Stadtplanung, und im Verkehrswesen auf die Beine gestellt. Wir pflegen einen guten Austausch mit vielen Akteuren der Stadt und unser Angebot wird angenommen. Diese Transferleistungen, also dass wir unserer wissenschaftlichen Forschung praktische Relevanz für die Stadt verleihen, erhöht maßgeblich die Sichtbarkeit unserer Hochschule. Als Hochschule für Angewandte Wissenschaften gehen wir einen Schritt weiter: Wir „produzieren“ nicht nur Absolventen für den Arbeitsmarkt, sondern bilden Menschen (aus), die der Gesellschaft letztlich mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten einen Mehrwert bringen möchten. Diese gesellschaftliche Ausrichtung halte ich für essentiell, sie ist mir in meiner Zeit als Präsident ein Herzensanliegen gewesen und dies bleibt es weiterhin.

Hierzu gehört aus meiner Sicht auch, die Stadt Frankfurt, entsprechend ihrer Ressourcen und Fähigkeiten, klar als Wissenschaftsstadt zu positionieren. Frankfurt wird häufig als Banken- und Messestandort wahrgenommen; und diese Prädikate sind natürlich zutreffend. Um zudem die Marke als Wissenschaftsstadt stark zu machen, haben wir gemeinsam mit der Goethe-Universität sowie der Frankfurt School of Finance and Management die „Frankfurter Wissenschaftsrunde“ ins Leben gerufen. Wir haben alle Wissenschaftseinrichtungen in Frankfurt an einen Tisch geholt und aus dieser Runde heraus das Gespräch mit der Politik gesucht, um uns als Träger des Wissenschaftsstandorts anzubieten. Wir sind also nicht lediglich mit Forderungen an die Politik herangetreten, sondern haben ein Angebot unterbreitet. Die Hochschulen und die Wissenschaftseinrichtungen können viele herausragende Leistungen für die Stadt erbringen. Wir als Frankfurt UAS versammeln beispielsweise alleine 270 Professorinnen und Professoren, die als Reflexionspartner für Herausforderungen der Stadt fungieren können und dies auch tatsächlich wollen. Mit derartigen Initiativen hat die Frankfurt UAS viel Sichtbarkeit gewonnen. Dass uns dies gelungen ist – hierauf bin ich stolz.

Ein großer Meilenstein war außerdem die Gründung des Center for Applied European Studies (CAES). Im Zuge der europäischen Finanz- und Bankenkrise haben wir uns als Hochschule für Angewandte Wissenschaften gefragt, welche Chancen, Lehren und Perspektiven aus der Krise gezogen werden sollten. Hieraus ist das CAES entstanden: Eine wissenschaftliche Plattform, um Europa aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Es ist uns gelungen, ganz unterschiedliche Persönlichkeiten zu gewinnen, um aus kultureller, juristischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Perspektive über Europa zu diskutieren und bisweilen echte Streitgespräche zu führen. Angetrieben von der Idee, den Diskurs und den Austausch zu leben, haben wir außerdem ein Europäisches Hochschulnetzwerk, U!REKA, gegründet, in dem die europäischen Metropolregionen vertreten sind. Darauf bin ich ebenfalls sehr stolz. Hier wird der europäische Gedanke wirklich gelebt. Die Betonung liegt auf „gelebt“, denn das Netzwerk dient nicht lediglich dazu, Flagge zu zeigen, sondern steht für ein gemeinsames Fortschreiten in der Europäischen Union, dafür, dass wir gemeinschaftlich etwas bewegen möchten. Das große Ziel für uns als Hochschule für angewandte Wissenschaften: dass Sie als Studierender sich eines Tages einfach in einem europäischen Hochschulnetzwerk einschreiben und damit wirklich an beispielsweise acht europäischen Standorten studieren. Wie anders kann man die Vielfalt Europas wirklich erspüren und leben, als ein wandernder Studierender?!

Gibt es ein Ziel, das Sie nicht erreicht haben, eines, das Ihnen womöglich auch am Herzen gelegen hat?

Hochschulen befinden sich in einem steten Wandel, und für Projekte gibt es eigentlich keinen wirklichen Schlusspunkt. Bildung ist stets in Bewegung. Vieles wurde angestoßen und ist am Laufen und kann somit noch nicht abschließend beurteilt werden. Wir legen an der Frankfurt UAS einen Schwerpunkt auf die Persönlichkeitsentwicklung und die Potentialentfaltung der jungen Menschen. Hier hatte ich anfangs den Wunsch, auch die Internationalität unserer Hochschule noch mehr zu stärken. So hätte ich mir gewünscht, auf der einen Seite deutlich mehr Professorinnen und Professoren aus dem Ausland zu berufen und auf der anderen Seite Lehrende und Studierende der Frankfurt UAS in noch höherem Maße für einen Auslandsaufenthalt begeistern zu können. Als ich damals studierte, war es Gang und Gäbe, für ein Semester ins Ausland zu gehen. Heute ist das weniger der Fall. Und ich finde, dass wir das weiter fördern und verstärkt dafür werben müssen. Das hätte ich in meiner Zeit als Präsident gerne weiter ausgebaut – und dies trotz der Gründung des bereits genannten europäischen Hochschulnetzwerkes.

Ich musste allerdings feststellen, dass sich die Gesellschaft verändert hat. Obwohl wir uns gesellschaftlich intensiv mit der Weltlage, der internationalen Politik und allen Aspekten unserer globalisierten Welt auseinandersetzen, scheint es so, als würden die Menschen ihren Blick zunehmend auf ihre engere Umgebung, den Freundes- und Familienkreis richten, auf das, was man an dem Ort hat, in dem man lebt. Im Rahmen eines Forschungsprojekts in der Schweiz habe ich zu Arbeitnehmern der Generation Y geforscht. Es zeigte sich bereits damals, dass die Generation Y ihr Umfeld sehr schätzt und es sie nicht mehr so dringend für längere Zeit ins Ausland zieht, wie die Generationen vor ihr. Hier haben wir es also möglicherweise mit einer tiefergehenden Veränderung zwischen den Generationen zu tun: Lokal sein, aber virtuell global beweglich.

Ihr Motto an der Frankfurt UAS lautet: „Vielfalt stärkt.“ Wie wird dieses Motto gelebt und gepflegt?

Im ersten Schritt müssen wir uns fragen, was Vielfalt überhaupt bedeutet. Häufig wird „Vielfalt“ verkürzt verstanden, als ginge es ausschließlich um kulturelle, internationale Vielfalt. Hier versandet die Diskussion dann zumeist. Aber wenn man in der Tat ein Haus mit rund 15.500 Studierenden und 270 Professoren und Professorinnen, sowie 700 Mitarbeitenden leitet, haben wir es nicht ausschließlich mit internationaler, kultureller Vielfalt zu tun. Es geht um völlig verschiedene Bildungs- und Lebensweltbiographien und die daraus resultierenden Perspektiven.

Wir betrachten Vielfalt an der Frankfurt UAS als einen wunderbaren Raum der Kombinationsmöglichkeiten: Exemplarisch hierfür ist das Interdisziplinäre Studium Generale, in dem wir uns einer Thematik aus unterschiedlichen Disziplinen annähern. Die Studierenden aus allen Fachbereichen lernen, einen Gegenstand interdisziplinär zu analysieren und zu reflektieren. In dieser interdisziplinären Arbeitsweise verstehe ich Hochschule als einen relevanten gesellschaftlichen Protagonisten. Man könnte diese Herangehensweise sogar als politischen Auftrag verstehen. Denn wir leben nun einmal in einer hochkomplexen und heterogenen Welt. Wie, wenn nicht durch interdisziplinäre Handlungsmodi, können wir uns den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen und Problemen sonst annehmen? Wir müssen die Vielfalt unserer Gesellschaft nutzen, denn nur durch unterschiedliche Perspektiven können wir zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft werden. Ich schließe daraus, dass wir uns gesellschaftlich vermehrt darauf verständigen sollten, unsere kompetenzbasierte, sprachliche und kulturelle Perspektivenvielfalt, unsere Unterschiede komplementär zu nutzen – so kann eine Gesellschaft erfolgreich sein. Wir sollten uns als Gemeinschaft daran orientieren. Dann könnte aus der Vielfalt tatsächlich eine verbindende Einheit werden.

Wenn wir unsere Unterschiede komplementär nutzen, kann aus unserer gesellschaftlichen Vielfalt eine verbindende Einheit erwachsen.

Was bedeutet das für die Studierenden?

Unser gemeinsames Ziel liegt darin, dass die Studierenden ihr Studium erfolgreich absolvieren, als Persönlichkeiten sich entwickelt haben und einen guten Job finden. Wie auch im erfolgreichen Fußballteam von Eintracht Frankfurt braucht es eine gemeinsame Zielformulierung, anschließend die Fokussierung und letztlich das Erreichen des Ziels. Wenn es uns gelingt, diese Gangart auf unsere Gesellschaft zu übertragen, können wir künftig noch größere Herausforderungen meistern.

Die Corona-Pandemie hat für viele neue Realitäten geschaffen, die teilweise bereits zur neuen Normalität geworden ist. Die vergangenen warmen Sommermonate haben nun dem Leben wieder etwas mehr Leichtigkeit eingehaucht. Welche Lehren haben Sie aus der Pandemie für das Leben an der Hochschule gezogen?

Ich bevorzuge den Begriff „neue Realität“, denn von einer Normalität kann kaum die Rede sein. Jeder und auch wir an der Hochschule mussten täglich auf Veränderungen im Pandemiegeschehen reagieren und unterschiedliche Verordnungen des Landes Hessen zügig umsetzen. Gegenwärtig sehe ich noch keine neue Normalität. Wir befinden uns in einem Prozess, in dem wir zu einigen Aspekten des früheren Lebens zurückkehren und andere ganz bewusst hinterfragen. Es tat unheimlich gut, dass wir das Sommersemester 2022 in Präsenz gestalten konnten. Gleichwohl waren die vergangenen Semester für die meisten Studierenden sehr hart, da sie nicht einmal ihre Hochschule betreten durften, Abschlüsse nicht gefeiert werden konnten und wir uns damit abfinden mussten, in Lehrveranstaltungen nur mehr auf einer „Kachel“ im Internet zu existieren. Ich glaube, dass wir in Zukunft viel mehr darauf achten müssen, Räume menschlich, sozial und einladend zu gestalten, so dass direkte Berührung und im besten Sinne des Wortes Auseinandersetzungen gefördert werden.

Wir haben wohl eindringlich gelernt, dass wir als soziale Wesen die Präsenz, den direkten Kontakt und die Gesellschaft brauchen. Die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, können wir nur gemeinsam und im direkten Kontakt, in der Berührung, in der Beziehung, im Aushandeln, im Diskutieren, im Ideen produzieren, bewältigen. Diese Formen schaffen erst den „sozialen Kitt“, der uns zusammenhält.

Und noch ein Punkt ist mir wichtig: die Pandemie oder schreckliche, völlig unterschiedlich geartete Katastrophen wie im Ahrtal oder der Krieg in der Ukraine zeigen etwas außerordentlich Wichtiges: Der Mensch hilft unglaublich gerne. Er ist eben auch zu altruistischem Handeln, zur Rücksichtnahme, zur Übernahme von Verantwortung für andere in der Lage. Das ist in den vielen Krisen, die wir erleben, auch Teil einer neuen Realität. Jetzt aber muss es darum gehen, dieses Verhalten aus dem Krisenmodus – und jetzt benutze ich Ihren ursprünglichen Begriff – in eine „neue Normalität“ zu transferieren.

Prof. Dievernich, Sie sind Polytechniker. Polytechnisch bedeutet „Vielfalt an Fähigkeiten“, eine Idee, die Sie in Ihrer Weise verkörpern. Neben zahlreichen Tätigkeiten vor Ihrer Arbeit an der Frankfurt UAS zeichnet sich Ihr Werdegang durch viele weitere spannende Stationen aus. Welche Einstellung steckt dahinter? Was treibt Sie persönlich an?

Im Grunde treiben mich zwei Aspekte an: Zum einen verfüge ich über eine enorme Neugier auf Neues, auf Themen, die ich zunächst für mich erarbeiten muss; es ist mir eine Freude, mich fortwährend weiterzubilden. Zum anderen bin ich fasziniert von Menschen, die für mich in ihrem Sein und Tun einfach das größte Kino sind. Diese Erkenntnis ist mir in meiner beruflichen Erstausbildung als Trainee im Nachwuchsförderungsprogramm der BMW AG wie Schuppen von den Augen gefallen. Auf den häufigen Wochenend-Zugfahrten zwischen München und Frankfurt habe ich viele interessante Gespräche mit anderen Reisenden geführt. Jede Zugfahrt geriet dabei zu einem eigenen „Film“. Jede Reise war anders, jede Situation einmalig, jeder Mensch einzigartig; und so haben mich diese Reisen unwahrscheinlich geprägt, mein Interesse an Menschen verstärkt und meine Neugier auf die Menschen geweckt. Im Trainee Programm waren wir damals 16 hoch motivierte und aufgeschlossene junge Menschen, die sich über den Tellerrand ihrer Ausbildung hinaus auch für Kunst, Kultur und Musik begeistern konnten. Nachdem wir mit unserer abgeschlossenen Ausbildung von BMW übernommen wurden, habe ich leider – und das sage ich, weil ich niemandem zu nahetreten möchte – feststellen müssen, dass einige aus der Gruppe dieses gewisse Leuchten in den Augen verloren hatten. Zumindest habe ich das so wahrgenommen. Mir persönlich hat das fast schon Angst gemacht. Ich war noch nicht bereit, meinen beruflichen und persönlichen Weg so eindeutig zu zementieren, sondern wollte weitergehen und Neues entdecken.

Das war der Moment, in dem ich beschloss, zuerst Wirtschaftswissenschaften, dann Soziologie, Psychologie und Pädagogik zu studieren. Es ging mir darum, meine Neugier ausleben zu können. Mein theoretisches Wissen musste ich anwenden lernen, um Praxisbezüge herzustellen und zu sehen, was überhaupt damit anzufangen ist. Nach meiner Station bei der Deutschen Bahn AG wollte ich noch mehr über Personalstrategie und Personalführung erfahren und ging zur Kienbaum Management Consultants GmbH.

Was sich bei allen Stationen durchzieht ist, dass ich nach einer gewissen Zeit des Erlebens und Entdeckens, dieses Agieren in der Praxis mit Abstand betrachten muss. Für mich war es dann nur folgerichtig, diese Reflexionen, Gedanken und Ideen festzuhalten. So kam ich zum Schreiben und Publizieren.

Zusammenfassend kann ich sagen: Mich faszinieren seit jeher jene Momente, in denen ein Mensch leuchtende Augen bekommt und plötzlich ein Erkenntnisgewinn eintritt. Diese Momente herbeizuführen ist eine Aufgabe, die ich auch und ganz klar in meiner neuen Funktion als Vorstandsvorsitzender der Stiftung Polytechnische Gesellschaft sehe: Die Menschen abholen, einen Schritt weitergehen und so das Momentum der leuchtenden Augen erzeugen.

Die Krisen der heutigen Zeit und andere existentielle Herausforderungen erfordern ein systemisches Denken, das wir so früh wie möglich in den Köpfen und in das Handeln der Menschen verankern sollten.

Wie können wir es schaffen, uns den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen wirksam anzunehmen? Ich nenne mal den Klimawandel, die Digitalisierung und den demografischen Wandel.

Sie haben drei große Herausforderungen genannt: Klimawandel, Digitalisierung und den demografischen Wandel. Ich würde gerne einen vierten Punkt hinzufügen. Dieser wäre: wir selbst! Das große Problem besteht nicht aus diesen unterschiedlichen Problematiken, sondern ggf. darin, dass wir uns alle selbst ein Stück weit verloren haben. Wir haben an vielen Stellen verlernt zu verstehen, wo wir herkommen und was Geschichte mit uns macht und dass wir selbst lediglich das Ergebnis dieser Geschichte, also dieses speziellen Kontextes sind, in dem wir leben. Eigenes, wie auch gesellschaftliches Verhalten, würden wir besser verstehen, wenn wir uns in einem größeren historischen Kontext betrachten. Mit dem Verlorensein meine ich, dass wir gar nicht wissen, wohin wir genau wollen. Vielleicht wissen wir das für uns im Kleinen, jeder für sich, aber wissen wir es für uns alle, für unsere Gesellschaft? Wo debattieren wir das? Solange wir nicht wissen, woher wir kommen und wohin wir hinwollen, können wir nur schwer eine Lösungsstrategie für die drei von Ihnen genannten Punkte entwerfen. Was die genannten Herausforderungen angeht, halte ich es für wichtig, dass wir an den Schulen, Hochschulen und Universitäten eine ganz bestimmte Kompetenz ausbilden, die wir bisher deutlich vernachlässigt haben. Wir müssen lernen, transdisziplinär zu denken und zu handeln. So benötige ich nicht mehr nur die Wirtschaftswissenschaften, ich brauche nicht mehr nur die Natur- und Sozialwissenschaften als einzelne Disziplinen, sondern deren „Gemengenlage“, deren vielfältige Perspektiven, um auf die globalen Krisen adäquat reagieren zu können. Und das nicht sequentiell, sondern parallel und gemischt.

Herr Prof. Dievernich, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Constantin D. Groß