Ein Gespräch mit Nedal Altahan, der in Hessen eine neue Heimat fand

"Ich habe keine Angst mehr"

Nedal Altahan ist im zweiten Jahr des syrischen Bürgerkriegs aus seiner Heimat nach Deutschland geflohen. Schnell wurde er als Flüchtling anerkannt und konnte sich ein neues Leben aufbauen. Beim Pharmaunternehmen Fresenius Medical Care absolvierte er eine Ausbildung zum Industriekaufmann und arbeitet seither dort. Seit 2020 ist Altahan Mitglied der Polytechnischen Gesellschaft. Am Dienstag, 31. Oktober 2023, ist er zu Gast beim Themenabend „Neue Heimat? Wie Flüchtlinge gut bei uns ankommen können“. Wir haben mit ihm über die Flucht und den Neuanfang in Deutschland gesprochen.

Nedal, du kommst ursprünglich aus Syrien?

Ich stamme aus einer kleinen Stadt im Süden von Syrien. Meine Familie kommt von dort, ich bin da zur Schule gegangen. Ich habe vier Geschwister. Vor dem Krieg hatten wir ein gutes Leben dort. Es gab damals keine Auswanderer oder Flüchtlinge. Man konnte arbeiten, studieren, eine Familie gründen. Wichtig für mich war, dass wir als Familie zusammen waren.

Du hast vor dem Krieg ein Studium angefangen?

Ja, ich habe Jura studiert.  Ich bin aber zum Studieren nach Aleppo gezogen. Zeitweise habe ich während des Studiums auch in Damaskus gelebt. Das Studium hat mir sehr gut gefallen. Ich habe das Studium auch beendet und wollte dann ein Referendariat machen. Aber das hat dann wegen des Kriegs nicht mehr geklappt.

Im Jahr 2014 hast du dich zur Flucht entschlossen und bist zunächst in die Türkei gereist.

Ja, in der Türkei bin ich aber nur zwei Wochen geblieben. Ich kam dort zu einer Gruppe von Menschen, die per Boot über das Mittelmeer nach Italien fahren wollten. Später zeigte sich, dass die Gruppe von professionellen Schleppern zusammengestellt worden war. Die hatten die Plätze im Boot für 5.000,- oder 10.000,- Euro verkauft; manche hatten 15.000 Euro bezahlt. Dann kam der Tag der Abreise, und wir mussten mit 270 Menschen in einem 21 Meter langen Metallboot unterkommen. Wir saßen faktisch aufeinander – unter unglaublichen Bedingungen. Davon war vorher nicht die Rede gewesen, aber nun gab es kein Zurück mehr. Wir fuhren von der Türkei zuerst an die ägyptische Grenze, wo die Bootsmannschaft ausgetauscht wurde. Das Steuer übernahm dann ein Minderjähriger. Die Idee dahinter war, dass er – im Falle einer Verhaftung durch die italienische Küstenwache – aufgrund seines Alters keine schwere Strafe zu fürchten hatten.

Ihr seid anschließend von Ägypten nach Italien gefahren? Mit 270 Personen an Bord?

Ja, das war Mitte November. Das Wetter war schlecht, es gab starken Regen. Die Fahrt über das Mittelmeer dauerte sieben Tage. Es gab nichts zu essen, kaum zu trinken, die hygienische Situation war schrecklich. Es war ein einziger Albtraum. Ich habe während dieser Reise fünfzehn Kilo abgenommen. Schließlich hat uns ein Schiff der italienischen Marine gefunden und an Land gebracht.

Was passierte dann in Italien?

Wir wurden von der Hafenstadt, wo wir gelandet waren, in den Norden, nach Mailand geschickt. Dort am Bahnhof gibt es viele Schlepper, die auf Flüchtlinge warten, um sie von dort nach England oder sonst wohin zu bringen. Ich hatte aber von Schleppern genug. Am Mailänder Bahnhof traf ich dann zufällig eine junge Frau wieder, die mit mir über das Mittelmeer gefahren war. Sie erzählte mir, dass sie auf ihren Onkel wartete, der seit 25 Jahren in Deutschland lebte und sie abholen würde. Als der dann kam, haben die beiden mir angeboten mit ihnen zu kommen. Ich wollte eigentlich nach England, weil ich Englisch sprechen konnte. Aber das war dann eine konkrete Chance, zu einem Ziel zu kommen und dann bin ich mit ihnen nach Wiesbaden gefahren. Ich sprach damals kein einziges Wort Deutsch.

In Wiesbaden bist du jedoch nicht geblieben.

Nein, da war ich nur ein paar Tage. Ich konnte wieder zu Kräften kommen, bekam neue Kleider. Doch dann hat mich der Onkel der jungen Frau nach Gießen zur Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge gebracht, wo ich einen offiziellen Antrag auf Asyl stellte. Ich bekam schon nach sechs Wochen eine Anerkennung für drei Jahre. Damals ging das noch richtig schnell. Kurz darauf folgte mein Transfer nach Kronberg.

Kannst du dir erklären, warum das so schnell geklappt hat?

All das passierte Ende 2014, also noch vor der großen Flüchtlingskrise im Jahr darauf. Ich hatte alle relevanten Unterlagen dabei, auch Urkunden aus meinem Studium; damit konnte ich die Behörden schnell überzeugen. Inzwischen sind die Anerkennungsverfahren sehr viel langsamer. Es sind mehr Anträge, es gibt mehr Fälschungen. Schon mein Bruder, der nur einige Zeit nach mir nach Deutschland kam, erhielt nur noch einen subsidiären Schutzstatus.

Von Gießen bist du dann nach Kronberg im Taunus gekommen. Wie ist es dir dort ergangen?

In Kronberg gab es den Verein „Flüchtlingshilfe Kronberg“. Als wir in Kronberg ankamen, warteten die schon auf uns. Der Verein hat ein kleines Wohnheim, in dem ich zwei Monate bleiben konnte. Die Mitglieder des Vereins waren sehr nett und haben mir enorm viel geholfen. Sie haben auch einen Kontakt zu einer Familie aus Kronberg vermittelt, die mir anbot, zu ihr ins Haus zu ziehen. Dort hatte ich ein eigenes Zimmer und eine eigene Küche; insgesamt wohnte ich bei der Familie elf Monate lang. Eigentlich wollte ich in der Zeit einen Deutschkurs machen, der sich aber mangels freier Plätze verspätete. Daraufhin gab mir eine Nachbarin privaten Deutschunterricht, ein, zwei Stunden fast jeden Morgen. Auch mit meiner Gastfamilie habe ich viel Deutsch gesprochen. So konnte ich schnell Fortschritte mit der Sprache machen. In der Zeit gelang auch meinem kleinen Bruder die Flucht. Er war damals sechzehn Jahre alt. Ich beantragte für ihn die Vormundschaft, so dass er zu mir ziehen konnte. Auch da hat uns die Familie sehr unterstützt. Mein Bruder durfte ins Haus ziehen, und der Vater, ein Schreinermeister, hat sogar ein Bett für ihn gebaut. Das war wirklich toll. Wir haben danach noch drei Monate bei der Familie gewohnt, ehe wir uns eine eigene Wohnung gesucht haben.

Was macht dein Bruder heute?

Er hat eine Ausbildung zum KfZ-Mechaniker gemacht und arbeitet jetzt bei Tesla. Und in Kronberg ist er seit fünf Jahren Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr.

Wie ging es für dich weiter?

Ich wollte eigentlich etwas mit meinem Studium anfangen. Als ich in einer Anwaltskanzlei ein Praktikum machte, merkte ich jedoch, dass mir mein syrischer Abschluss für die Arbeit als Anwalt in Deutschland nicht hilft. Das war eine sehr frustrierende Zeit für mich. Viele rieten mir damals, eine Ausbildung zu machen, um erst einmal Fuß zu fassen und Berufserfahrungen sammeln zu können. Also habe ich zahlreiche Bewerbungen verschickt, bekam eine ganze Reihe an Absagen, doch schließlich kam die positive Antwort der Firma Fresenius für eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Ich musste einen Einstellungstest machen und hatte ein Bewerbungsgespräch, und dann kam schnell die gute Nachricht: „Nächstes Jahr kannst du bei uns anfangen!“ In der Übergangszeit bis zum Beginn der Ausbildung habe ich noch in einem Café gearbeitet. Und nach meiner Ausbildung hat Fresenius mich direkt übernommen. Heute arbeite ich dort als Global Expert Customer Service für die Länder des Mittleren Ostens.

Wie hat sich dein rechtlicher Status weiterentwickelt?

Nach drei Jahren wurde mein Aufenthaltstitel zunächst einmal verlängert. Bevor seine Gültigkeit auslief, habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Das ging dann sehr schnell: Innerhalb von sechs Monaten wurde ich eingebürgert. Da war ich seit fünfeinhalb Jahren in Deutschland.

Was waren für dich in den Jahren des Neuanfangs in Deutschland die wichtigsten Faktoren, die dir geholfen haben?

Nach der Reise über das Mittelmeer hatte ich die Angst verloren. Nach einer solchen Reise hat man keine Angst mehr im Leben. Seither denke ich oft: Egal, was Schlimmeres kann nicht mehr passieren! In Deutschland hatte ich viel Glück, habe sehr Positives erlebt. Die Kronberger Flüchtlingshilfe hat meinen Bruder und mich sehr darin unterstützt, einen Weg in die deutsche Gesellschaft zu finden. Der Verein arbeitet mit der Stadt Kronberg zusammen. Das ist wichtig, denn die Stadt stellt viele Ressourcen zur Verfügung. Aber die Menschen im Verein haben sich wirklich mit uns als Individuen beschäftigt. Sie kannten uns und haben immer geschaut: Wer braucht einen Deutschkurs? Wer braucht eine Arbeit? Sie haben sich eben um uns gekümmert. Wenn es Schwierigkeiten gab, sind sie mit uns zu Behörden gefahren und haben versucht, mit uns Lösungen für unsere Probleme zu finden. Das waren intensive, fast tägliche Kontakte. Einige meiner Freunde aus Syrien, die später hierherkamen, haben solche Erfahrungen nicht machen können. Die haben niemanden getroffen, der sich um sie gekümmert hat. Für sie war der Start viel schwieriger.

Wie ist es eigentlich für dich, wenn du als Flüchtling angesehen wirst?

Der Begriff des „Flüchtlings“ ist schon etwas nervig. Das Wort wird von vielen Menschen eher negativ verwendet. Das Wort klingt oft auch wie ein Schimpfwort.

Hast du diskriminierende Erfahrungen gemacht?

Nicht im rechtlichen Sinne, aber du merkst, wenn Menschen dir gegenüber Vorbehalte haben. Schon allein, wie sie dich anschauen… Du spürst das Misstrauen oder die Abscheu. Sie sehen dich an, als ob du von einem anderen Planeten kommst. Oft merke ich, dass Menschen über unsere Situation nicht richtig informiert sind. Viele denken, wir kämen hierher, um vom Sozialstaat zu profitieren. Aber ich bin nicht wegen der Sozialhilfe hier. Klar, ich war am Anfang, etwa anderthalb Jahre lang, auf Hilfe angewiesen, auch vom Sozialstaat. Aber ich habe versucht, schnellstmöglich irgendeinen Job zu finden, und seither sorge ich selbst für meinen Lebensunterhalt.

Woher kommen solche Vorbehalte?

Es gibt auch Probleme mit Asylbewerbern, die kriminell werden. Über solche Fälle wird in den Medien viel berichtet. Das prägt die Wahrnehmung der Leute. Dass aber ganz viele geflüchtete Menschen sich hier ein normales Leben aufbauen, das ist kein Thema für die Zeitungen. Über einen Kriminalfall wird tagelang berichtet, über eine Erfolgsgeschichte vielleicht in einem Beitrag, und das war’s. Inzwischen sind 150.000 Syrer in Deutschland eingebürgert worden. Auch darüber wird nicht gesprochen. Aber es ist ein großer Erfolg: Es ist nicht so leicht, Deutscher zu werden. Das bekommt man nicht geschenkt. Dafür muss man was leisten. Und viele Syrer haben was geleistet.

Bei der Kriminalität gibt es allerdings Entwicklungen, die viele Menschen beunruhigen.

Wir müssen uns auch genauer die Geschichte von Leuten anschauen, die kriminell werden. Ich hatte viel Glück und habe sofort Menschen getroffen, die sich für mich interessiert und die mir geholfen haben. Aber das ist ja nicht immer der Fall. Manche bleiben allein und isoliert. Da fragt keiner, was sie jetzt machen wollen. Und manche dieser Menschen werden auf Dauer psychisch krank. Und das ist zumindest ein Grund für die Kriminalität. Da, finde ich, hat auch der Staat eine Aufgabe: Wenn wir erkennen, da ist ein Mensch seit einem Jahr hier und hat nichts zu tun, dann müssen wir ihm eine Perspektive geben. Zur Not muss man die Leute auch zu einer Arbeit verpflichten.

Du hattest von Anfang an – dank der Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe – viel Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Würdest du sagen, dass das das Geheimnis deiner Erfolgsgeschichte ist? Oder gibt es noch andere Faktoren?

Aus meiner Sicht ist der erste Punkt, dass die Deutschen genau darüber informiert werden, warum die Flüchtlinge hier sind. Wenn die Menschen verstehen, warum die Flüchtlinge hierherkommen, dann ändert das ihre Wahrnehmung. Der zweite Punkt: Wir müssen mehr Erfolgsgeschichten erzählen, die zeigen, dass es funktioniert. Der dritte Punkt ist: Wir dürfen die Flüchtlinge nicht allein lassen. Wie das in Kronberg angepackt wurde, war es sehr erfolgreich. Dabei spielte die enge Zusammenarbeit zwischen der Kommune und dem Verein eine wichtige Rolle. Der vierte Punkt: Wir müssen die Menschen in Arbeit bringen. Sie sollten nicht allein zuhause sitzen.

Wie gefällt dir die Region, in der du jetzt lebst: Frankfurt und das Rhein-Main-Gebiet? Fühlst du dich hier wohl?

Mein Start in ein neues Leben hier hat wirklich gut geklappt. Nach vier Jahren, nach der Ausbildung bei Fresenius, hatte ich meinen ersten Job und verdiente ein gutes Gehalt. Ich konnte mir ein Auto und eine Wohnung leisten. Heute habe ich ein gutes Leben. Ich kann mir nichts Anderes vorstellen als hier zu leben. Selbst wenn ich noch einmal nach Syrien käme, würde ich es dort keine drei Wochen aushalten. Mein altes Leben ist komplett verloren. Hier ist meine neue Heimat. Ich habe hier alles erreicht, was ich mir wünschen würde. Hier sind dir keine Grenzen gesetzt, du darfst dich so entwickeln, wie du willst; du darfst machen, was du möchtest, du kannst gehen, wohin du willst. Und es herrscht eine große Sicherheit: du bist nicht in Gefahr, sondern einfach frei.

Könntest Du Dir vorstellen, auch in München oder Hamburg zu leben?

Das wäre möglich, aber es wäre schwierig: Ich habe hier Menschen, die mir sehr wichtig sind, zum Beispiel die Menschen, die mir am Anfang viel geholfen haben und mit denen ich bis heute einen engen Kontakt habe. Wir helfen uns bis heute. Diese Menschen will ich nicht verlieren. Sie sind so etwas wie meine Familie; ich würde sie nicht verlassen wollen für einen anderen Job.

Hast du hier noch Kontakt zu anderen Syrern?

Im Anfang hatte ich intensiven Kontakt zu anderen Syrern, aber jetzt sind sie in alle Himmelsrichtungen verstreut. Inzwischen ist jeder mit seinen Dingen beschäftigt, und der Kontakt ist weniger geworden. Ich hatte auch deshalb viel Kontakt in den ersten Jahren, weil ich mich irgendwann selbst bei der Flüchtlingshilfe Kronberg engagiert habe, vor allem als Übersetzer bei Terminen in der Ausländerbehörde oder bei der Bank. Ich war zwei Jahre lang sehr aktiv dort, aber dann wurde es immer mehr. Ich wurde auch nachts um 2:00 Uhr angerufen: „Kannst du mal schnell ins Krankenhaus fahren?“ Ich musste mein Engagement schließlich reduzieren, um mich auf meine Ausbildung zu konzentrieren. Von Zeit zu Zeit helfe ich aber auch heute noch mit Übersetzungen oder bei Behördengängen.

Hast du weitere Pläne?

Im September beginne ich ein Masterstudium in Internationalem Wirtschaftsrecht an einer privaten Hochschule in Frankfurt. Fresenius finanziert mein Studium zu 50 Prozent.

Dafür wünsche ich dir viel Erfolg! Nedal, herzlichen Dank für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Andreas Pesch.